Dreieinigkeit
Lege einen vollständig roten Gegenstand vor Dich.
Wo befindet sich die Rotheit? Was ist der Sitz der Rotheit, in dem sie begründet ist, auf dem sie beruht?
Befindet sich die Rotheit im
Gegenstand? Denn es ist ja natürlich der Gegenstand der rot ist.
Aber entferne alles Licht oder den Betrachter, und da ist keine Rotheit im Gegenstand zu finden.
Befindet sich die Rotheit im
Licht? Denn alle Farben sind doch im Licht.
Aber entferne den Gegenstand oder den Betrachter, und im Licht ist nirgendwo Rotheit zu finden.
Befindet sich die Rotheit im
Betrachter? Denn der Betrachter ist es ja schliesslich, der die Wellenlängen des
vom Gegenstand reflektierten Lichts als Rot sieht.
Aber entferne das Licht oder den Gegenstand, und da ist keine Rotheit im Betrachter.
Wo befindet sich nun also die Rotheit?
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Nagarjuna sagte (im 2. Jahrhundert nach Christus in Indien): Die Mutter und das Kind werden gleichzeitig aus der Geburt
geboren. Es gibt keine Mutter ohne Kind, und es gibt kein Kind ohne Mutter. Und ohne Geburt gibt es weder eine Mutter noch
ein Kind. Der Akt der Geburt konstituiert die Mutter als Mutter und das Kind als Kind. Der Akt ist primär. Der Akt spannt
zwei Pole auf, und diese Pole bestehen nur im durch den Akt gegebenen Bezug.
Meister Eckhart sagte (im 14. Jahrhundert nach Christus in Europa) bezogen auf die christliche Trinität: Gott Vater und Gott
Sohn werden gemeinsam aus dem Heiligen Geist geboren. Es gibt keinen Gott Vater, und es gibt keinen Gott Sohn, ohne den
Heiligen Geist. Die Schöpfung spannt den Schöpfer und das Geschöpf als Pole ihres Geschehens auf. Das Geschehen der Schöpfung
ist primär. Der Akt spannt zwei Pole auf, und diese Pole bestehen nur im durch den Akt gegebenen Bezug.
Für Plotin (der zur Zeit von Nagarjuna in Nordafrika und später in Rom lebte) ist die Dreieinigkeit des sich selbst erkennenden
Geistes die erste Andersheit, die fundamentalste Form. Noch fundamentaler ist nur das absolute (und formlose) Eine.
Im Vedanta ist die Dreieinigkeit von Beobachter, Beobachtetes und Beobachtung (als Akt) zentral wichtig. Es sind drei Aspekte
eines Geschehens. Man kann keinen der drei Aspekte isolieren, ohne die anderen zwei Aspekte und damit die ganze Dreieinigkeit
zu zerstören.
Und sowohl Nagarjuna als auch Meister Eckhart sagen, dass der Akt, der die Pole aufspannt, primär ist, und nicht die Pole.
Die Pole bestehen nur als Pole des Bezugs. Der Bezug macht die Pole des Bezugs zu dem was sie sind.
Es gibt keine Dinge, die für sich existieren und zudem miteinander in Bezug treten (oder auch nicht). Es gibt nur Bezüge,
und diese Bezüge spannen Pole auf.
Gautama Buddha meinte dasselbe wenn er sagte: Alles ist durch alles bedingt, und alles ist ohne Selbst. Alles ist Bezug,
und die Dinge werden in der buddhistischen Lehre als leer bezeichnet, was bedeutet, dass sie keine eigenständige Existenz
haben; sie sind nichts an und für sich.
Der Verstand behauptet das Gegenteil: Die Welt ist eine Ansammlung von Gegenständen, und diese Gegenstände treten miteinander
in Bezug, und sie haben Eigenschaften. Und diese Eigenschaften können von uns erkannt werden („wir“ sind dabei nur ein
weiterer Gegenstand, auch wenn dieser Gegenstand „Subjekt“ genannt wird).
Das ist das was ich die Klumpenwelt nenne. Die Welt des Verstandes ist eine Klumpenwelt. Der Verstand kann nicht anders.
Der Verstand macht auch Dich zu einem Klumpen, zu einem Ding mit Eigenschaften.
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Der Verstand geht davon aus, dass Gegenstände die Grundlage von allem sind. Diese Gegenstände können Eigenschaften haben
(oder auch nicht), und sie können Bezüge eingehen (oder auch nicht).
Um diesen Ansatz zu entkräften genügt es, einen vollständig roten Gegenstand vor Dich zu legen.
Jetzt nimm diesem Gegenstand die Rotheit weg. Was siehst Du?
Die Behauptung, der Gegenstand sei etwas an sich, und er habe die Eigenschaft „rot“ zusätzlich zu seiner Existenz, und Du
könnest die Eigenschaft „rot sein“ am Gegenstand erkennen, passt nicht auf die Erfahrung Deines Sehsinns. Es ist vielmehr
genau umgekehrt: Die Rotheit macht, dass Du einen Gegenstand siehst. Du (als Seher des Gegenstands) und der Gegenstand,
das sind die beiden Pole, die durch die Rotheit aufgespannt werden. Ohne Rotheit gibt es diese Pole nicht. Ohne die
Rotheit gibt es weder einen Seher des roten Gegenstands noch einen gesehenen roten Gegenstand.
Dein Sehsinn bestätigt Nagarjuna und Meister Eckhart, und er widerlegt den Ansatz des Verstandes.
Nun sagst Du vielleicht „Na, aber ich weiss ja, dass es mich und den Gegenstand auch unabhängig von diesem Rot-Sehen gibt“.
Aber das ist eine blosse Behauptung. Sie lässt sich nicht bestätigen. Und zudem wird sie von unserer Erfahrung widerlegt,
wie oben gezeigt wurde: ohne Rot-Sehen gibt es weder den Rot-Seher noch den gesehen roten Gegenstand.
Dass ich den „unsichtbaren“ Gegenstand ja immer noch anfassen kann widerlegt ebenfalls nicht das oben Gesagte.
Denn auch der Tastsinn nimmt nicht den Gegenstand an sich wahr, sondern die Gegenständigkeit zwischen Hand und
Gegenstand. Erst diese Gegenständigkeit ermöglicht ein Gewahrsein der Hand sowie des Gegenstandes.
Jede Wahrnehmung jedes unserer Sinne beruht auf dem Prinzip, welches wir am Beispiel der Rotheit kennengelernt haben. Jede Wahrnehmung
findet in der Dreieinigkeit von Wahrnehmung, Wahrnehmendem und Wahrgenommenem statt. Der Wahrnehmer und das Wahrgenommene
werden vom Akt des Wahrnehmens konstituiert. Unser ganzes Gewahrsein von allem was ist beruht auf Bezügen, nicht auf Gegenständen.
Und diese Bezüge sind nicht die Bezüge von Gegenständen.
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Der Sachverhalt, dass der Bezug primär ist, wird für mich am schönsten in der Liebe ausgedrückt.
Ich bin ein Klumpen mit der Eigenschaft „dich lieben“, und du bist ein Klumpen mit der Eigenschaft „mich lieben“, und
über diese Eigenschaften treten wir miteinander in Kontakt – das drückt das tatsächlich Vorhandene nur sehr unzulänglich
aus. Liebe ist nicht etwas, das von mir ausgeht und mich in eine Verbindung mit Dir bringt, und von Dir ausgeht und Dich
in eine Verbindung mit mir bringt.
Zwei Liebende erfahren Liebe als etwas, das sie umhüllt, das aus ihnen blüht. Im Englischen heisst es „being in love“ –
in der Liebe sein. Die Liebe ist da, und wir sind in ihr. Die Liebe quillt durch uns, wir gehen auf in ihr, sie hat
uns als Pole ihres Spiels mit sich selber. Wir sind Ausdruck der Liebe, die Liebe vereint uns und macht uns gleichzeitig
zu dem was wir sind – Liebende.
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Das alles soll keine intellektuelle Akrobatik sein. Rein als Gedankengänge mag es unterhaltend sein, aber eine rein
intellektuelle Beschäftigung mit diesen Themen führt nicht weit.
Was sind die Konsequenzen dieser Sachverhalte für unsere spirituelle Praxis? Wie sieht mein Leben aus wenn ich mit diesen
Erkenntnissen Ernst mache?
Es lohnt sich, dem Sachverhalt, dass Dinge nur als Pole von Bezügen existieren, nachzuspüren.
Wie verändert sich meine Erfahrung, wenn ich mich nicht mehr in einer Welt von Klumpen bewege, sondern in einer Welt,
die aus Bezügen besteht?
Kann ich die Entspannung und die Weite erfahren die sich einstellen, wenn ich aufhöre, in einer Klumpenwelt zu leben? Ich
werde leicht und durchlässig und weit, alles wird leicht und durchlässig und weit, wenn ich mir erlaube, aus der
abgeschlossenen und beschränkten Welt der Gegenstände herauszutreten.
Es kann natürlich nützlich sein, mit dem Ansatz „Ding mit Eigenschaften“ zu operieren. Die Welt lässt sich prima manipulieren
wenn ich mit Eigenschaften von Dingen operiere. Aber wir sollten nie dem Irrtum erliegen, dass „Ding mit Eigenschaften“ die
Wirklichkeit beschreibe. Die Wirklichkeit ist lebendig und dynamisch, ein Tanz von Bezügen, und die Pole der Bezüge sind
keine Klumpen, sondern diese Pole erblühen als Ausdruck der Bezüge aus denen sie leben.
Es lohnt sich, spielerisch im Alltag mit diesen neuen Ansätzen umzugehen. Wie ist es, wenn ich mein Essen „trinitarisch“
schmecke, statt dass ich davon ausgehe, dass ich ein Gegenstand bin, der sich andere Gegenstände einverleibt?
Wie ist es, wenn ich nicht als Klumpen andere Klumpen anschaue, sondern Schauen als Bezug erlebe, als Bezug, aus dem sich der Seher
und das Gesehene entfalten?
Wie ist es, wenn ich mein Hören als Schnittstelle von Innen und Aussen erfahre?
Wie ist es, wenn ich mich, andere Menschen, und die ganze Welt nicht mehr als Klumpen wahrnehme, sondern als Ausfaltung des Heiligen
Geistes (oder, falls man eine neutralere Beschreibung bevorzugt, als Pole in Bezügen)?
Wie ist es, wenn ich meine Erfahrungen nicht mehr dafür benutze, dass sie immerzu auf einen Klumpen mit Namen „ich“ verweisen, und diesen
Klumpen in seiner ewig gleichbleibenden Existenz bestätigen, sondern wenn ich jede Erfahrung ganz eigenständig sich selbst
ausdrücken lasse, ganz für sich, in ihrer ganzen momentanen Einzigartigkeit?
Schliesse die Augen und spüre Deine Ausdehnung. Bist Du ein Klumpen, oder eher eine nicht klar begrenzte Ausdehnung
von Gewahrsein? Bist Du ein Ding mit Eigenschaften?
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Und wenn Du solcherart in Dich hineinhorchst, dann erkennst Du vielleicht plötzlich, dass das, was Du bis anhin als
„dort draussen“ wahrgenommen hast, gar nicht „dort draussen“ ist, sondern vielmehr „hier innen“. Denn die Welt die
ich wahrnehme ist ja nicht wirklich „dort draussen“, sondern alles was ich wahrnehme ist in Wirklichkeit „hier drinnen“.
Meine Wahrnehmung findet „hier drinnen“ statt, nicht „dort draussen“.
Das „dort draussen“ ist in Wirklichkeit „hier drinnen“, nicht „dort draussen“. Wodurch das „dort draussen“ aufhört, „dort draussen“
zu sein. Wodurch sich auch das „hier drinnen“ wandelt...
Und vielleicht gehst Du noch einen Schritt weiter und erkennst dabei, dass Du gar nicht nur einfach das „hier drinnen“
bist, sondern gleichermassen das „dort draussen“. Weil „hier drinnen“ und „dort draussen“ nur gemeinsam vorkommen – ja,
in Wirklichkeit ein Ausdruck desselben sind.
Du erkennst, dass „dort draussen“ und „hier drinnen“ in Dir auf einzigartige Weise unterschieden und vereint sind.
Du erkennst, dass Du der Ort bist, an dem „dort draussen“ und „hier drinnen“ aufgespannt werden, in einer Art und Weise,
die nur in Dir so vorkommt. Und dass Du nicht der eine Pol dieser Beziehung bist, sondern die Beziehung selbst, sowie
auch die Pole der Beziehung.
Du bist der Brennpunkt, in dem das All auf einzigartige Weise das All wahrnimmt. Das All erkennt durch Deine Sinne sich selbst.
Die Unendlichkeit nimmt durch den Brennpunkt Deiner Sinne die Unendlichkeit auf einzigartige Weise wahr. Als Einzigartigkeit die Du bist.
Wie John Keats sagte:
„I am the eye with which the Universe
Beholds itself and knows itself divine“.
Ich erfahre meine Sinne als die Schnittstelle zwischen Unendlichkeit und Unendlichkeit. Auf der einen Seite erstreckt sich
die unendliche Weite des Alls, und auf der anderen Seite erstreckt sich die unendliche Weite des Alls. Und das All
betrachtet und erkennt ganz ruhig und höchst lebendig durch meine Sinne sich selbst.